StrahlenschutzPRAXIS

Zeitschrift für den sicheren Umgang mit ionisierender und nichtionisierender Strahlung

Heft 1: Strahlung und Radioaktivität bei energietechnischen Anwendungen

Bei den Begriffen Strahlung und Radioaktivität im Zusammenhang mit der Energiebereitstellung assoziieren die meisten Menschen „Atomkraftwerke“ und meinen damit die radiologischen Folgen, die mit der Spaltung von Atomkernen in herkömmlichen Kernreaktoren einhergehen. Im folgenden Schwerpunktthema wird überblicksweise gezeigt, welche radiologischen Besonderheiten bei neuen Kernreaktor- und Kernfusionskonzepten zu erwarten sind, welche radioaktiven Emissionen Öl- und Gaskraftwerke verursachen und welche Strahlungsexpositionen mit der Förderung und Verarbeitung von Lithium und Seltenen Erden verbunden sind.

Schwerpunktbeiträge

Energie und Strahlung − ein kurzer Blick in das Wurzelwerk des Strahlenschutzes

Mit der Beherrschung des Feuers wurde die Erzeugung von ausreichender Energie essenziell für die Entwicklung der Menschheit – und wird es auch weiter sein. Derzeit ist die Energiewirtschaft in einem Wandel, der zumindest in unserem Kulturraum gern als „grüne Wende“ etikettiert wird. Weg von den alten fossilen Energieträgern, hin zu den unerschöpflich erneuerbaren Quellen Wind, Wasser und Sonne. Frei von gefährlicher Strahlung und zutiefst ökologisch, das sind zweifellos gute Visionen.
Als Physiker und Strahlenschützer sehen wir aber, dass die Etiketten, die diesen Visionen angeheftet werden, naturwissenschaftliche Sachverhalte ausblenden.

Neue Kernspaltungsreaktoren

Kernenergie ist nahezu frei von CO2-Emissionen, nicht nur das Kernkraftwerk allein, sondern der gesamte Lebenszyklus von der Kernbrennstoffgewinnung bis zur Entsorgung des nuklearen Abfalls (siehe z. B. [01]). Deshalb nehmen viele Länder die Kernenergie in ihre Strategie zur Dekarbonisierung ihrer Elektrizitätserzeugung auf.
In heutigen Kernkraftwerken wird hauptsächlich das Isotop 235U gespalten, das nur zu 0,72 % im Uran enthalten ist. Diese Kernkraftwerke hinterlassen Abfall, der sehr lange Zeit radioaktiv ist. Um diese Nachteile zu beseitigen, wird vielerorts an einer neuen Generation von Reaktoren gearbeitet. Sie basieren auf der Umwandlung des Isotops 238U und alternativ des Thoriums in neuen Spaltstoff, ein Prozess, der Brüten genannt wird. Weiterhin können sie langlebige Komponenten im hochaktiven Abfall in schneller zerfallende Spaltprodukte umwandeln, was als Transmutation bezeichnet wird.

Radiation Protection Aspects of Fusion Energy Production

After more than a half-century during which fusion power has remained steadfastly 20 years in the future its time might finally be drawing nearer. In the last few years we have seen ignition occur twice at America’s National Ignition Facility (Reuters, Aug 7, 2023 https://www.reuters.com/business/ energy/us-scientists-repeat-fusion-power-breakthrough-ft-2023-08-06/), which has produced a brief power surplus on each occasion. The British have produced 59 MJ of power over a period of 5 seconds (BBC, 9 Feb 2022 https://www.bbc.com/news/science-environment-60312633), and a flurry of other articles in the news have reported innovative new designs and progress elsewhere in the world. While there is nobody in the world who has actual experience on a working fusion power reactor (yet), it is certainly possible to anticipate some of the radiation protection issues that the fusion reactors of the future are likely to pose. This article draws upon some of the author’s personal experience as Radiation Safety Officer for a radioactive materials license that included an inertial confinement laser fusion research facility at the University of Rochester between 1998 and 2003. While some of their practices have changed, the general concerns and tasks remain the same.

Natürliche Radioaktivität in Rückständen aus der Erdöl- und Erdgasgewinnung

Die bis vor Kurzem in Deutschland genutzte Kernenergie wird in der Öffentlichkeit unmittelbar mit Radioaktivität und Anforderungen zum Strahlenschutz in Verbindung gebracht. Dagegen ist weniger bekannt, dass auch durch die Erdöl- und Erdgasgewinnung und die weitere Verarbeitung dieser Rohstoffe zur Energiegewinnung Rückstände anfallen, die durch natürlich vorkommende Radionuklide kontaminiert und nach dem Strahlenschutzgesetz überwachungsbedürftig sind. Diese Rückstände werden nach der erforderlichen Entlassung aus der strahlenschutzrechtlichen Überwachung in den allermeisten Fällen auf oberirdischen Deponien entsorgt. In dem vorliegenden Beitrag wird das Mengenaufkommen von radioaktiv kontaminierten Rückständen in Bezug auf die durch die Erdöl- und Erdgasgewinnung produzierte Energie bilanziert.

Lithium and NORM − a new challenge for Radiation Protection?

Against the background of climate change and the various efforts to place the energy supply mix on a new footing, the question arises as to what radiological impacts may occur in this context. A material that was rather a niche product a few years ago is now developing into a mass-produced element: Lithium. This lightest and chemically highly reactive metal consists in its natural occurrence of the 2 stable isotopes 6Li and 7Li and is therefore naturally non-radioactive. However, this does not at all mean that the extraction of lithium will not potentially cause radiation exposure.
Any extraction and processing of minerals, fossil fuels, etc. can potentially lead to the concentration of naturally occurring radioactive material (NORM) within products and/or associated wastes. As practical experience shows, it is necessary to comprehensively examine the occupational and environmental impact of a new developing technology at the very beginning. In our opinion, this also includes the examination of lithium extraction with regard to the presence of NORM within by-products or associated waste streams. Indeed, this checking should be done on a project-by-project basis, because absence of NORM in one instance does not necessarily imply freedom from NORM in other albeit similar projects.

Der strahlende Schatten der Windenergie

Stromproduktion mittels Windkraft verbindet man normalerweise nicht mit Strahlenexposition. Allerdings entsteht auch bei Windkraft ein radiologischer Fußabdruck, hier jedoch nicht im laufenden Betrieb in Deutschland, sondern primär beim Abbau und bei der Verarbeitung von benötigten Rohstoffen im Ausland (derzeit hauptsächlich China). Insbesondere die Seltenerdmetalle, welche für effiziente getriebelose Generatoren verwendet werden, sind vergesellschaftet mit natürlich vorkommenden Radionukliden.  Als Folge der örtlichen Bedingungen ergeben sich nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die Bevölkerung in der Hochburg der Seltenerdmetalle Baotou (Nordchina) signifikante Dosisbeiträge.

Weitere Fachbeiträge

Dosis- und Risikoreduktion zur Resilienzerhöhung beim Umgang mit pharmazeutischen Radionukliden in Produktion und Applikation

Ausgezeichnet mit dem Rupprecht Maushart – Preis 2023

Für die Diagnostik und Therapie diverser Krankheiten Stehen zunehmend mehr pharmazeutische Radionuklide und Proteine zur Verfügung. Zusätzlich steigt der Bedarf an bereits existierenden sowie neu entwickelten pharmazeutischen Radionukliden und Proteinen stetig an. Die bereits existierenden Resilienz- und Vulnerabilitätskonzepte wurden in dieser Thesis analysiert und dahin gehend überprüft, inwiefern sie auf ein mögliches Konzept im Strahlenschutz beim Umgang mit radioaktiven Stoffen übertragbar sind. Es wurde nachgewiesen, dass viele Aspekte der Resilienz- und Vulnerabilitätskonzepte übertragen werden können. Jedoch sind nicht alle Aspekte übertragbar. Zur Gewährleistung einer Dosisminimierung wird ein Prüfhandbuch erarbeitet. Das Prüfhandbuch kann als Ergebnis der Master-Thesis von den Strahlenschutzverantwortlichen in jeweiligen Unternehmen genutzt werden und dient als systematisierter Leitfaden für die Implementierung von praktischen Maßnahmen zur Dosis- und Risikoreduktion sowie zur Erhöhung der Resilienz beim Umgang mit radioaktiven Stoffen. Die Entwicklung der effektiven Dosis und Organ-Äquivalentdosis bei der Produktion und Applikation mit Daten des deutschen Strahlenschutzregisters wird analysiert und bewertet.