Was sich international im Strahlenschutz tut:
Schlussfolgerungen aus IRPA 16 in Orlando/USA
Vom 7. bis 12. Juli 2024 fand in Orlando (Florida) die 16. Tagung der IRPA statt. Die Tagung stand unter dem Motto: „Radiation Harmonization: Standing United for Protection.“ Damit war schon ein Punkt genannt, der den Strahlenschutz weiter beschäftigen wird: Wie können die vielfältigen Anforderungen an den praktischen Strahlenschutz harmonisiert und damit „Fit for purpose“ werden?
Einen ersten kurzen Tagungsbericht enthielt schon SSP 3/2024 und ein ausführlicherer Bericht findet sich in dieser SSP. Im folgenden Beitrag versuchen wir, aus den vielen Beiträgen stichwortartig abzuleiten, was sich international im Strahlenschutz tut und welche Themen voraussichtlich die kommenden Jahre (oder Jahrzehnte) prägen werden. Soweit wir dabei konkrete Beiträge nennen, beziehen wir uns auf die Zusammenstellung aller Abstracts (bei Postern mit Posternummer P. xxx, bei Vorträgen mit Verweis auf die Seite S. xxx) in der Zeitschrift „Health Physics 127(1) July 2024“ als zitierfähigem Dokument.
Konzepte und Grundlagen des Strahlenschutzes
Wie bei vielen Tagungen zum Strahlenschutz dominierte auch in Orlando der Strahlenschutz bei ionisierender Strahlung. In 2 Postern (P. 10, P. 11) und 3 Vorträgen (S. 184, S. 185) wurden Arbeiten von UNSCEAR vorgestellt, darunter auch die sicherlich noch viele weitere Fragen aufwerfende Untersuchung zu sekundären Krebserkrankungen nach Radiotherapie.
Abb. 1: Die Zitate in diesem Bericht beziehen sich auf die Ausgabe der „Health Physics. 127(1) July 2024“. Die Poster werden mit der Posternummer, die Vorträge mit der Seitennummer zitiert.
Trotzdem waren gerade die Vorträge hochinteressant, die sich mit der Harmonisierung des Gesamtsystems des Strahlenschutzes befassten. Während Christopher Clement in seinem Vortrag (S. 186) „Key Features and the Current Review and Revision of the System of RP for Ionising Radiation” den aktuellen Diskussionsprozess der ICRP vorstellte und als zentrales Element der Diskussion die Vereinfachung benannte, befassten sich Rodney Croft (S. 186) und Jerrold Bushberg (S. 186) mit dem Strahlenschutz bei nichtionisierender Strahlung und dem Vergleich der Strahlenschutzsysteme IR – NIR. Ob sich die Grundprinzipien des Strahlenschutzes bei IR – Rechtfertigung, Optimierung und Limitierung – auch für den Strahlenschutz bei NIR sinnvoll anwenden lassen, ist eine spannende Diskussion. Einige seltsame Blüten, die aus diesen Versuchen gewachsen sind, haben Hans-Dieter Reidenbach veranlasst, einen Beitrag für diese SSP zu verfassen, der den Rahmen des Schwerpunktthemas sprengt und daher als Fachbeitrag zu lesen ist.
Messungen und Dosimetrie
Die Umstellung auf neue Dosismessgrößen nach ICRU ist ein Thema, das weltweit Auswirkungen haben wird. Die Poster P. 190 und P. 194 befassten sich mit den praktischen Konsequenzen der ICRU-Publikation 95 und den dort vorgeschlagenen Änderungen der Messgrößen für die äußere Exposition. Beide Arbeiten kommen zum Schluss, dass sowohl bei der Bestrahlungsgeometrie ROT (P. 190) als auch bei Neutronenstrahlung in Anlagen mit hochenergetischen Neutronenfeldern (P. 194) die bisherigen Messgeräte akzeptable Ergebnisse erreichen. Die Aufwendungen, die durch die Notwendigkeit der neuen Kalibrierungen, den Ersatz bisheriger Messgeräte entstehen, werden aber beträchtlich sein. Bei den Praktikern wirft diese Entwicklung Fragen auf.
Neutronenstrahlung und deren Dosimetrie waren Gegenstand der Poster P. 101, P. 103, P. 111, P. 114, P. 140, P. 143, P. 220, P. 223, P. 324, P. 325, P. 527, P. 535. Auf eine spezielle Herausforderung in diesem Zusammenhang ging der Beitrag von Sabine Mayer et al. (P. 220) „Neutron Dose Rate Monitoring around Accelarators: Unique Aspects at PSI“ ein. Dieser Beitrag beschreibt die Herausforderungen, die sich vor allem aus dem Vorkommen von hochenergetischen Neutronen in Streustrahlungsfeldern bei Hochenergiebeschleunigern ergeben.
Strahlenschutz in der Medizin
In der Medizin steht der Nutzen von Strahlenanwendungen zwar generell außer Frage, die Begrenzung der Exposition in der Radiologie sowohl für das medizinische Personal als auch für die Patienten ist aber weiterhin ein Thema. Neue Technologien, wie z.B. die KI, sollen helfen, Expositionsabschätzungen zu verbessern, Expositionen zu verringern und damit insgesamt den Gesundheitsschutz zu verbessern. Diese neuen Instrumente bieten Möglichkeiten, doch müssen dazu auch Validierungsmethoden entwickelt werden.
In der Nuklearmedizin gibt es Entwicklungen bei der Bewertung der Exposition von Schwangeren. Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Risikoabschätzung nach Expositionen werden stärker thematisiert. Einige Aspekte zeigte der Vortrag „Computational Personal Dosimetry: Status and New Applications“ von Filip Vanhavere (S. 192).
Weiterhin gibt es Entwicklungen, die computergestützte Dosimetrie zu verbessern, um während der Messung eine mögliche Gefährdung sofort zu erkennen. Mittels verbesserter Rechenleistung wird es einfacher, anhand von Phantommodellen die Exposition abzuleiten.
Strahlenschutz und Energiewirtschaft
International wird intensiv an neuen Technologien zur Nutzung der Kernkraft gearbeitet. Damit ergeben sich neue Herausforderungen an das Regulierungssystem und den praktischen Strahlenschutz. Die 3-D-Abbildung von Strahlungsfeldern mittels CdZnTe (CZT)-Detektoren (David Miller, S. 219) könnte nicht nur in KKW zu einem noch besseren Strahlenschutz führen.
Viel grundsätzlicher sind aber Fragen, die sich um neue Reaktoren drehen. Abel Julio Gonzales (S. 242) diskutierte die regulatorischen Anforderungen an SMR, die sich insbesondere aus Sicht der nuklearen Sicherheit für die argentinischen Behörden stellen. Michael Rinker (S. 242) stellte aus Sicht eines kanadischen Betreibers vor allem Fragen des Strahlenschutzes bei fortgeschrittenen Reaktortypen dar. Theresa Clarke et al. (S. 242) befassten sich mit der Entwicklung eines regulatorischen Rahmens für US-Fusionssysteme.
Im Zusammenhang mit der Kerntechnik wird der Schutz der Umwelt, insbesondere der nicht menschlichen Biota, thematisiert – wobei die Modelle und Bewertungen das eine, die Wirkungen in der realen Welt etwas anderes zu sein scheinen. Das US-EPA-Konzept zum Schutz der Umwelt durch Kontrolle der Exposition von Pflanzen und Tieren stellte Michael Boyd (S. 231) vor. Angewandt auf Standorte des EPA-Superfund-Programms ergab sich nur in sehr wenigen Fällen ein Sanierungsbedarf durch diese Exposition. Eine in Schweden praktizierte Vorgehensweise unter Nutzung eines Ausbreitungsmodells (PREDO) und des ERICA-Tools für Dosismodellierung ergab (Charlotte Andersson et al. S. 199), dass selbst bei 100-jähriger Emission durch 5 von Vattenfall betriebene Reaktoren die Exposition von nicht menschlichen Arten sowohl in terrestrischen als auch in marinen und limnischen Ökosystemen geringfügig bleibt und die Bemessungswerte (DCRL) nicht erreicht.
Energiewirtschaft und Strahlenschutz haben aber auch andere Aspekte.
Dass die Gewinnung von Erdöl und Erdgas mit radioaktiv kontaminierten Abfällen verbunden ist, ist seit Langem bekannt, führt aber, wie Beiträge aus Brasilien zeigten, bei fehlenden pragmatischen Regelungen zur Ansammlung nicht entsorgbarer Abfälle (André Barras, P. 417) und zur Notwendigkeit, eine Verdünnung als Problemlösung schönzureden (Luiza Mocarcel, S. 227). Wie Clemens Walther (S. 209) in einem vielbeachteten Vortrag zeigte, führt die Verwendung von Neodym-Magneten in Windkraftanlagen zur stillschweigenden Akzeptanz von Dosen jenseits der eigenen Zuständigkeit und auch die Gewinnung und Aufbereitung von Lithium-Mineralien, deren Produkte eine Schlüsselrolle bei der Elektrifizierung spielen, sind mit Radioaktivität und Exposition verbunden (P. 410).
Nukleare und radiologische Notfälle
Eng verbunden mit der Nutzung der Kernenergie sind mögliche nukleare und radiologische Notfälle. Konzepte, um in einem Notfall geeignet reagieren zu können, sind weltweit ein Thema mit hohem Stellenwert. In diesem Zusammenhang spielen Modellrechnungen für Dosisabschätzungen im Krisenfall, Messungen und Maßnahmen zur Verringerung der Strahlenexposition eine große Rolle.
Die Erfahrungen im Notfallschutz nach dem Reaktorunfall in Fukushima sind inzwischen in spezielle ISO-Normen eingeflossen, z.B. ISO/DIS 20043-2 „Guidelines for effective dose assessment using environmental monitoring data Part 2: Nuclear emergency exposure situation“. Zu den identifizierten Herausforderungen in einem Ereignis mit radiologischen Folgen gehören der Umgang mit Ressourcenknappheit, Stoßkapazitäten, Kommunikation.
Seit 2022 sieht sich der Strahlenschutz leider auch konfrontiert mit der Erkenntnis, sich wieder wegen bewaffneter Konflikte auf eine mögliche Strahlenbelastung durch beschädigte Nuklearanlagen oder den Einsatz von Kernwaffen konzentrieren zu müssen. Damit stehen alle Entwicklungen im Notfallmanagement wieder im Fokus. In einzelnen Postern (P. 354, P. 370, P. 371) zeigt sich dieser Trend.
Andere Themen
Ein sich derzeit stark entwickelndes Themenfeld ergibt sich aus der Erforschung des Weltraums. Gerade Langzeitflüge und Planungen zu interplanetaren Missionen stellen neue Fragen und Herausforderungen an den Schutz der beteiligten Personen.
Die Anwendungen ionisierender (und nichtionisierender) Strahlung führt immer wieder zu neuen Herausforderungen, aus denen Ideen zur Verbesserung des Schutzes resultieren. Gerade die IRPA bietet eine Plattform, diese Ideen international zu teilen und zu diskutieren. Die Harmonisierung von Strahlenschutzsystemen wird generell für wichtig erachtet, reibt sich aber in der Praxis an nationalen Interessen und historischen Gewohnheiten.
Für das Management radioaktiver Abfälle aus nuklearen, medizinischen und industriellen Einrichtungen wurden wertvolle Erfahrungen aus dem Fukushima-Projekt (Advanced Liquid Processing System, ALPS) in Japan gewonnen, das die Freisetzung des kontaminierten Wassers nach Behandlung zum Ziel hatte. Eine Anregung bei der Festlegung regulatorischer Dosiskriterien zur Nutzung kerntechnischer Anlagen nach deren Dekontamination gab der koreanische Vortrag „Regulatory Radiation Dose Criteria for Site Reuse after Decommissioning of Nuclear Installations in Korea” (Hayyong Jung, Hoijin Lee; S. 225).
Von den natürlich vorkommenden Radionukliden spielen Radon und immer wieder auch Thoron eine herausragende Rolle im Strahlenschutz – und die Poster und Vorträge zu diesem Thema belegten, dass das auch noch längere Zeit so bleiben wird.
Ausbildung, Kompetenzerhalt und Öffentlichkeit
In allen Regionen der Welt gilt es, auch angesichts immer komplexerer Regelungen, die Ausbildung im Strahlenschutz auszubauen, in einigen Regionen sogar, sie aufzubauen. Auch in entwickelten Ländern findet sich vielfach die Herausforderung, zu verhindern, dass die Qualität der Ausbildung angesichts schrumpfender finanzieller Ressourcen schlechter wird. Die IRPA hat deshalb mit Mentoring-Programmen versucht gegenzusteuern. Auch die Health Physics Society ging diesen Weg. Die Vorträge: „IRPA Task Group on Mentoring Practices. Actions achieved and ways forward“ (S. 190) und „A Year of Mentorship: The new Mentorship Platform of the Health Physics Society“ (S. 190) stellten die Erfahrungen daraus vor. Im europäischen Rahmen gibt es die Förderprogramme der EUTARP, über die P. 541 berichtete.
Künstliche Intelligenz (P. 57) und interaktive Web-Tools (P. 84) sind Beispiele für die neuen Möglichkeiten in der Ausbildung.
Eng verbunden mit der Ausbildung ist das Ziel, den Stellenwert des Strahlenschutzes in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die IRPA und damit auch die nationalen Fachverbände sehen hier die Aufgabe, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines Strahlenschutzes, der wie Feuerwehr oder Technisches Hilfswerk dem Wohle aller dient und der vom Fachwissen unabhängiger Expertinnen und Experten getragen wird, den Bürgern und Bürgerinnen nahezubringen.
Es gilt deshalb eine Informationsstruktur auszubauen, die Bürgerinnen und Bürger stärker auch zu den wissenschaftlichen Grundlagen des Strahlenschutzes führt und sie dadurch in die Lage versetzt, faktenorientiert zu urteilen. Soziale Medien bieten hier gute Möglichkeiten (P. 83; P. 45). In der Reihe „Professional Enrichment Program“ der HPS (nicht in den Abstracts enthalten) gab der Vortrag von Robert Hayes „Becoming a Science Communicator in Social Media“ diverse Anregungen.
Einen interessanten Weg hat der brasilianische Fachverband eingeschlagen, indem er erfolgreich Webinare mit Journalisten veranstaltete.
Die vielfältigen technischen Möglichkeiten von Social Media können auf unterschiedlichste Art genutzt werden – sind aber mit der Herausforderung verbunden, sie kontinuierlich betreuen zu müssen.
Förderung der Frauenanteile im Strahlenschutz
Nicht zuletzt bleibt weiter im Fokus der IRPA das Bemühen um den Ausbau und die Förderung der Frauenanteile im Strahlenschutz. Wie die IAEA im aktuellen Newsletter (IAEA Weekly News – 23. August 2024) ausführt, sind im Bereich der nuklearen Sicherheit weibliche Fachkräfte unterrepräsentiert, auch in Positionen und Führungsrollen in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik (STEM).
Um dieses Problem anzugehen, hat die IAEA im März 2021 die „Women in Nuclear Security Initiative“ (WINSI) ins Leben gerufen, die sich aktiv für die Gleichstellung der Geschlechter in der nuklearen Sicherheit einsetzt.