Radioaktivität in der Umwelt? Schadstoffe? Unerkannt!
Am Anfang stehen die Messung und die Fragen: Woher? Wie schlimm? Wer ist schuld? Der Mensch oder die Umwelt selbst?
Gut ist es, einen Verursacher auszumachen, einen Schuldigen. Die Kontrolle ist gesellschaftlich gewünscht, hat aber ein Preisschild. Zur Bewertung der Gefährdung braucht es Daten. Dazu sind Messungen notwendig und wissenschaftlich belegte Erkenntnisse über die Auswirkungen der Schadstoffe. Über die Anzahl der erforderlichen Messungen lässt sich streiten, nicht aber über deren Qualität und Dokumentation. Die Interpretation steht wieder auf einem anderen Blatt.
Radioaktive Stoffe in der Umwelt?
Erst die zahlreichen Atomwaffentests in der Atmosphäre in den 1950er- und 1960er-Jahren gaben Anlass zur Besorgnis und motivierten zu den ersten Messungen von Radionukliden und deren Verteilung in der Umwelt. Und natürlich waren nicht erst seit dem Abwurf der Atombomben im August 1945 umfassende Forschungsprogramme in Arbeit über die Auswirkungen der Strahlung insbesondere auf den Menschen.
Messungen nach internationalen Standards
Heute schauen wir auf die Empfehlungen der ICRP, aktuell ICRP103 [1], die für den Strahlenschutz mit dem LNT-Modell einen linearen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung postuliert.
Zur Bewertung der Auswirkungen der in die Umwelt eingebrachten radioaktiven Stoffe musste die Aktivität nuklidspezifisch gemessen und dokumentiert werden, um die besonderen Gefahren für den Menschen abzuschätzen.
Was ist bedenklich?
Die gesellschaftliche Relevanz von nicht schlüssig beantworteten Fragen zur Auswirkung von Strahlung durch Radionuklide in der Umwelt hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 gezeigt. Es gab zwar viele Messwerte, aber die Interpretation der Auswirkungen war vielfältig, weswegen unterschiedliche Maßnahmen in den Bundesländern empfohlen wurden. Die Glaubwürdigkeit von Empfehlungen war erschüttert. Schon damals gab es ein ähnliches Misstrauen gegenüber den Entscheidungen der Regierung wie später 2020/2021 angesichts des Corona-Virus.
Strahlenschutzvorsorgegesetz in Deutschland
Aus diesen Erfahrungen heraus wurden in Deutschland im Dezember 1986 mit dem Strahlenschutzvorsorgegesetz die Grundlagen geschaffen, um die Überwachung der Radioaktivität strategisch neu auszurichten und Zuständigkeiten klar zu formulieren. Schleichende Erhöhungen sollten jederzeit anhand repräsentativer Messungen für jeden relevanten Umweltbereich festgestellt werden können, wie aber auch Freisetzungen höherer Aktivität rasch erfasst werden. Ein wildes „Drauf-Los-Messen“ sollte vermieden werden.
Zu unterscheiden ist zwischen der natürlichen Radioaktivität in der Umwelt und der Freisetzung aus technischen Anlagen und Einrichtungen, in denen Radionuklide gehandhabt werden.
Minimal notwendige Messungen führen zu maximal möglichen Bewertungen der zu erwartenden Auswirkungen.
Ziel des Strahlenschutzvorsorgegesetzes:
- umfassendes Wissen über radioökologische Prozesse und die Anreicherung von Radionukliden in den einzelnen Umweltbereichen gewinnen
- kleinste Veränderungen erfassen
- gleichbleibende hohe Qualität durch Routine sichern
- schnelle Datenaggregierung
- einheitliche Dokumentation
- Abschätzung des radiologischen Risikos
- Maßnahmen zur Minimierung der Dosis treffen
- zentrale Information der Bevölkerung mit einer Stimme
Diese Strategie basiert im Wesentlichen auf einem angenommenen Szenario ähnlich dem, wie es durch den Reaktorunfall von Tschernobyl ausgelöst worden war. Die Strahlenschutzvorsorge orientiert sich an den Messergebnissen für die Aktivität in den unterschiedlichen Umweltbereichen und für die Ortsdosisleistung.
Bei einer Freisetzung von Radionukliden aus einer kerntechnischen Anlage gelten in Deutschland Notfallpläne im Rahmen der Notfallvorsorge. Der Schutz der Bevölkerung (Schutz in Häusern, Evakuierung) im direkten Umkreis leitet sich aus der zu erwartenden Dosis ab (s. auch „Radioaktivität und Strahlung Grenzwerte und Richtwerte im Strahlenschutz“ [2]).
Datenkrake: Ergebnis politischen Willens
Für die abgeleiteten Verordnungen und Verwaltungsvorschriften gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz jeweils ein Strahlenschutzgesetz StrlSchG [3], StrlSchG [4] und StSG [5].
In Deutschland sind die Messprogramme für einen Normalbetrieb und einen Intensivbetrieb in einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Integrierten Mess- und Informationssystem zur Überwachung der Umweltradioaktivität (AVV-IMIS) [6] klar beschrieben.
Im Normalbetrieb wird gemessen, um kleinste Veränderungen zu erfassen.
Bei einer Freisetzung höherer Aktivität soll eine Bewertung der radiologischen Lage durch Messungen abgestützt werden.
Kontinuierlich wird demnach beprobt, aufbereitet, analysiert, gemessen, dokumentiert und bewertet.
Das gibt Sicherheit.
In Ergänzung zu der Überwachung der allgemeinen Umweltradioaktivität wurden auch die Betreiber kerntechnischer Anlagen mit einem Überwachungssystem bedacht. Es wird unterschieden zwischen der Überwachung von Emission und Immission im Normalbetrieb, den es routinemäßig zu kontrollieren gilt, sowie einem Störfall mit der dann notwendigen schnellen und gezielten Messung der freigesetzten Radionuklide. Die Messprogramme dazu sind in einer Richtlinie zusammengestellt [7].
Abb 1: Weltkarte mit Standorten von Kernkraftwerken, Quelle: Nuklearforum Schweiz
Kompetenzsicherung
Es ist wie bei einem Eisberg, hinter jedem Messwert in einem Bericht verbirgt sich ein großer personeller und materieller Aufwand, der verborgen bleibt. Solange es eine gesetzliche Basis dafür gibt, müssen dafür Haushaltsmittel bereitstehen, für Investitionen und den Betrieb. Bei einer geringer werdenden Anzahl kerntechnischer Anlagen darf über den Umfang der Messungen in den Messprogrammen nachgedacht werden. Andererseits nehmen die Unwägbarkeiten global möglicher Freisetzungen von Radionukliden zu, wodurch sich der Aufwand zur Überwachung der Umweltradioaktivität und die Bereitschaft, für den Notfall eingestellt zu sein, erhöht.
Für das Überwachungsprogramm sind Analysemethoden für Aktivitäten im Bereich weniger Nanobecquerel (Spurenmessungen) bis zu dosisrelevanten Megabecquerel erforderlich. Im Fokus ist die Messung von Aktivität, aus der die Dosis abgeleitet werden kann.
Herausforderungen für den Praktiker sind Aufbereitung, radiochemische Analytik, insbesondere von Alpha-Strahlern und Strontium 89/90, und die Messverfahren sowohl auf die Erfordernisse im Normalbetrieb wie im Intensivbetrieb auszurichten. Expertinnen und Experten haben für jeden Umweltbereich spezifische Verfahren entwickelt. Diese finden sich in den „Messanleitungen des Bundes“ [8] und in der Loseblattsammlung des Fachverbandes für Strahlenschutz, die der Arbeitskreis Umweltüberwachung (AKU) erarbeitet hat [9].
Zur Vertrauensbildung diente die Einführung von Managementsystemen nach DIN ISO 9001 oder/und DIN ISO17025.
Eine besondere Frage in der Öffentlichkeit bleibt bestehen: Wie ist die Gefährdung bei Messwerten oberhalb von Richtwerten zu bewerten?
Daher wird in der Dokumentation von Messdaten akribisch unterschieden zwischen Messwerten oberhalb der Nachweisgrenze und unterhalb der Nachweisgrenze, aber oberhalb der Erkennungsgrenze. Die Hinwendung zu der Bayes-Statistik macht es in der Praxis gewiss nicht einfacher, es ist aber logischer bei der Behandlung der Messunsicherheiten im gesamten Verfahren.
In einem Ereignis mit Aktivitäten deutlich oberhalb der Nachweisgrenzen muss bei der radiochemischen Analytik auf Querkontaminationen geachtet werden und auf Auswirkungen auf die Messungen bei sich überlagernden Spektren. Diese besonderen Bedingungen sind in den Formulierungen der Messprogramme in einem Intensivbetrieb berücksichtigt und werden durch Ringversuche simuliert.
Abb. 2: Fiktives radiologisches Überwachungszentrum nach fliki
Kommunikation: Wen interessieren die Daten?
Bei allen Messungen werden kleinste Veränderungen registriert, um Trends abzuleiten und um (stör- oder unfallbedingte) Freisetzungen frühzeitig zu erkennen. Gemäß StrlSchG [3] erfolgt die Datenbewertung in einem Radiologischen Lagezentrum (s. auch Kommentar zum Strahlenschutzgesetz [10]).
Auch werden Maßnahmen zum Strahlenschutz für Mensch und Umwelt bei einem großen nuklearen Unfall ausführlich in der ICRP-Publikation 146 beschrieben [11].
Alle Daten fließen in Jahresberichte ein und sind einsehbar [12], [13]. Dies darf aber deutlich offensiver bekannt gemacht werden und möglichst auch zeitnäher.
Auf den Internetseiten von BfS, BMUV (D), der AGES (A), BAG (CH), der Fachinstitutionen und der Fachverbände wird umfassend informiert.
Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit
Das Angebot in den Social Media sollte größer werden, um in einem Ernstfall auch über diesen Kommunikationskanal als kompetenter Ansprechpartner wahrgenommen zu werden.
Allerdings wird ein Restmisstrauen bleiben.
Über die Risikoeinschätzung wird immer wieder kontrovers diskutiert, und so ist eine breite auf Qualität geprüfte Datenbasis die einzige Chance, eine robuste Haltung einzunehmen und die Bewertung gesellschaftlich erprobten Mechanismen zu überlassen.
Alle Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit dienen der Vertrauensbildung. Die Informationskanäle ändern sich in einem Ernstfall nicht. Schon jetzt sind beispielsweise Daten der Ortsdosis direkt unbearbeitet einsehbar. Nur für die Atmosphäre als Beispiel hält das BfS im Hintergrund ein Messnetz zur Überwachung der Gamma-Ortsdosisleistung einsatzbereit. Der Deutsche Wetterdienst ermittelt an seinen Messstationen kontinuierlich die nuklidspezifische Aktivitätskonzentration der an Aerosole gebundenen Radionuklide und macht ggf. Ausbreitungsrechnungen, um die weitere Transportrichtung vorherzusagen oder auf die Herkunft rückzuschließen.
Kompetenz nachhaltig ausbauen
Für die praktische Laborarbeit braucht es eine solide Ausbildung und Erfahrungen im Labor mit komplexer Messtechnik. Kompetenz kann aber nur durch Arbeitskontinuität erhalten und entwickelt werden. Daher sind der aufwendige Routinebetrieb und der Umgang mit Messwerten rund um die Nachweisgrenze für den Kompetenzerhalt zwingend.
Trotz zunehmender Automatisierung bleibt qualifizierter technischer Support notwendig. Der nationale und der internationale fachliche Austausch sichern die Fortbildung, wie auch eine gute Ausbildung Voraussetzung bleibt. Hier wurde es aber immer schwieriger in den letzten Jahren. Die Zahl der Ausbildungsstätten schrumpft, die Ausbildungsplätze nehmen ab, die Motivation, im Strahlenschutz zu arbeiten, sinkt.
Fazit: Was bleibt also als Herausforderung an die Gesellschaft?
Voraussetzung: Die umfassende kontinuierliche Information über die Radioaktivität in der Umwelt ist gewollt!
Dann gilt es:
- Infrastruktur erhalten,
- Kompetenz erhalten,
- Ausbildungsplätze schaffen,
- junge Menschen motivieren,
- offensive Publikation aller Daten in allen genutzten Kommunikationskanälen und stete Pressearbeit,
- Öffentlichkeitsarbeit wie beispielsweise „Lange Nacht der Wissenschaften“ oder Kooperation mit Schulen etc.
Es gilt außerdem, Diskurse wie beispielsweise zu den „Risiken von Radionukliden in der Umwelt“ nicht zu scheuen, vor allem aber auch Aufklärung über allgegenwärtige natürliche Radioaktivität, denn nur Wissen ermöglicht einen normalen Umgang mit Radioaktivität und Strahlung.
Ja … eine Sisyphusarbeit, aber lohnend!
Quellen:
[1] ICRP 2007. Recommendations of the International Commission on Radiological Protection 2007, ICRP-Publication 103. Ann. ICRP 37 (2–4)
[2] Radioaktivität und Strahlung – Grenzwerte und Richtwerte im Strahlenschutz, Zusammenstellung des Fachverbandes für Strahlenschutz, März 2024, www.fs-ev.org
[3] Gesetz zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung (Strahlenschutzgesetz – StrlSchG) vom 27. Juni 2017 (BGBl. I S. 1966), zuletzt geändert am 3. Januar 2022 (BGBl. I S. 15)
[4] Bundesgesetz in Österreich über Maßnahmen zum Schutz vor Gefahren durch ionisierende Strahlung (Strahlenschutzgesetz 2020 – StrSchG 2020) StF: BGBl. Nr. 50/2020
[5] Schweizer Strahlenschutzgesetz (StSG) vom 22. März 1991 (Stand am 1. Januar 2022)
[6] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.): Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum integrierten Mess- und Informationssystem zur
Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt (IMIS) nach dem Strahlenschutzvorsorgegesetz (AVV-IMIS) vom 13. Dezember 2006
[7] Richtlinie zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechnischer Anlagen (REI), Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz vom 6. September 2023, GMBl. Nr. 6–9 2024, S. 102
[8] Messanleitungen für die Überwachung radioaktiver Stoffe in der Umwelt und externer Strahlung: www.bmuv.de/themen/strahlenschutz/ionisierende-strahlung/ueberwachung-derradioaktivitaet-in-der-umwelt/messanleitungen
[9] Empfehlungen zur Überwachung der Umweltradioaktivität: Loseblattsammlung des Arbeitskreises Umweltüberwachung des Fachverbandes für Strahlenschutz FS-78-15-AKU; ISSN 1013-4506, www.fs-ev.org/arbeitskreise/umweltueberwachung/loseblattsammlung
[10] ICRP 2020. Radiological Protection of People and the Environment in the Event of a Large Nuclear Accident: update of ICRP Publications 109 and 111, ICRP Publication 146
[11] Akbarian/Raetzke, Strahlenschutzgesetz: StrlSchG, Kommentar, XXXIII, 1044 S.C.H.BECK, 2022, ISBN 978-3-406-79557-2
[12] Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung, Jahresbericht 2020, Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Verbraucherschutz (BMUV), 20-Sep-2023
[13] Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität in der Schweiz – Ereignisse 2022, Bundesamt für Gesundheit (BAG), Mai 2023