Praktischer Strahlenschutz bei Tätigkeiten mit natürlich vorkommender Radioaktivität (NORM-Tätigkeiten)

Mit dem Inkrafttreten des Strahlenschutzgesetzes (StrlSchG) und der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) am 31. Dezember 2018 hat der praktische Strahlenschutz bei Tätigkeiten mit natürlich vorkommender Radioaktivität eine höhere Bedeutung erlangt.

Strahlenschutzrechtliche Vorschriften und NORM

Die strahlenschutzrechtlichen Vorschriften im Zusammenhang mit NORM-Tätigkeiten sind vielen betroffenen Unternehmen in Deutschland allerdings nicht bekannt. Die Unternehmen werden oftmals im Zusammenhang mit anderen strahlenschutzfachlichen Fragestellungen oder durch „zufälligen Informationsaustausch“ auf ihre Pflichten zur Abschätzung der Körperdosis aufmerksam gemacht.
Tätigkeiten mit natürlich vorkommender Radioaktivität sind insgesamt in unserer Gesellschaft nur wenig bekannt, da eher die „zivilisatorische Radioaktivität“ in der medialen Präsenz dominiert. Es gibt immer noch zahlreiche Unternehmen in Deutschland, denen nicht bekannt ist, dass es bei ihnen Arbeitsplätze mit Exposition durch natürlich vorkommende Radioaktivität gibt, und sie damit strahlenschutzrechtliche Regelungen zu beachten haben.

Geplante Expositionssituationen

Die NORM-Tätigkeiten sind im StrlSchG den geplanten Expositionssituationen zugeordnet. Damit wird konsequenterweise die Regelungssystematik wie u.a. die Terminologie, die Verantwortungsverteilung mit Strahlenschutzverantwortlichem und -beauftragtem, die Ausgestaltung von behördlichen Verfahren oder die Regelungen der einschlägigen Schutzvorschriften wie bei den anderen Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Umgang radioaktiver Stoffe, Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlung usw. verwendet.
Alle Regelungen im Zusammenhang mit Arbeitsplätzen mit Exposition durch natürlich vorkommende Radioaktivität sind im StrlSchG aufgeführt.
Die §§ 55 ff. im Teil 2 Kap. 2 Abschnitt 8 aufgeführten Vorschriften beinhalten keine Verordnungsermächtigungen.

Neu in der aktuellen StrlSchV

Im Gegensatz zur vorherigen StrlSchV von 2001 sind die strahlenschutzrechtlichen Regelungen bereits bei einer möglichen Exposition von Arbeitskräften ab 1 mSv im Kalenderjahr anzuwenden, bei dessen möglicher Überschreitung die Arbeitskräfte durch die Ausführung von NORM-Tätigkeiten nun auch als beruflich exponierte Personen einzustufen sind (früher: 6 mSv im Kalenderjahr).
Die Anlage 3 StrlSchG beinhaltet definierte Tätigkeitsfelder, nach denen aus Sicht des Gesetzgebers überhaupt eine effektive Dosis von 1 mSv im Kalenderjahr auftreten kann.
Für diese Tätigkeiten ist nach § 55 Abs.1 StrlSchG vor Beginn eine auf den Arbeitsplatz bezogene Abschätzung der Körperdosis durchzuführen.
Wenn im Ergebnis dieser Abschätzung eine Körperdosis errechnet wird, die oberhalb von 1 mSv im Kalenderjahr liegt und damit die Einstufung als beruflich exponierte Person nach sich zieht, muss diese Tätigkeit der zuständigen Behörde schriftlich angezeigt werden (§56 Abs. 1 StrlSchG).
Im StrlSchG wurde damit auch ein behördlich bestimmter Sachverständiger nach § 172 Abs. 1 Nr. 2 StrlSchG eingeführt, der für die Anzeige einen Prüfbericht zu erstellen hat.

Vorgehensweise zur Abschätzung der Körperdosis

In Ergänzung zur StrlSchV von 2001 gab es einige Dokumente, in der die Vorgehensweise zur Abschätzung der Körperdosis in unterschiedlichen Verfahrensweisen dargelegt wird:

  • Richtlinie für die Überwachung der Strahlenexposition bei Arbeiten nach Teil 3 Kapitel 2 Strahlenschutzverordnung (Richtlinie Arbeiten); BMU, 15.12.2003
  • Überwachung von Strahlenexpositionen bei Arbeiten – Leitfaden für die Umsetzung der Regelungen nach Teil 3 Kapitel 1 und 2 StrlSchV.– BfS, Fachbereich Strahlenschutz und Umwelt (Thomas Beck, Eckhard Ettenhuber); BfS-SW-03/06 / Salzgitter, März 2006
  • Berechnungsgrundlagen zur Ermittlung der Strahlenexposition infolge bergbaubedingter Umweltradioaktivität (Berechnungsgrundlagen – Bergbau). – BfS, Fachbereich Strahlenschutz und Umwelt; BfS-SW-07/10 (urn:nbn:de:0221-20100329966) / Salzgitter, März 2010

Für die Regelungen im StrlSchG wurden noch keine vergleichbaren Richtlinien oder Leitfäden veröffentlicht. In der Praxis hat sich im Allgemeinen das Dokument „Berechnungsgrundlagen – Bergbau“ (BglBb) weit verbreitet durchgesetzt.

Beschreibung der Modelle in den Berechnungsgrundlagen Bergbau (BglBb)

Die BglBb sind ursprünglich eine Berechnungsvorschrift für die radiologische Beurteilung der durch den ehemaligen Uran-Erzbergbau in der DDR und seine Hinterlassenschaften verursachten Strahlenbelastungen sowie für die Nachweisführung der Einhaltung des Richtwertes von 1 mSv im Kalenderjahr nach durchgeführten Stilllegungs-, Verwahrungs- und Sanierungsmaßnahmen. Sie wurden damit nicht primär für die Ermittlung der Körperdosis bei NORM-Tätigkeiten konzipiert, allerdings ermöglichen die Berechnungsmodelle realistische und ausreichend konservative Abschätzungen für die Expositionssituation an Arbeitsplätzen.
Die Körperdosis (effektive Dosis) wird für Referenzpersonen (fiktive beruflich tätige Personen) ermittelt, für die ein Aufenthalt an ungünstigen Einwirkungsstellen der jeweiligen Prozessschritte angenommen wird, welche Verhaltensweisen aufweisen, die zu hohen, aber nicht überhöht konservativen Expositionen führen.
Die beruflich tätigen Personen werden nach der Nomenklatur in den Berechnungsgrundlagen Bergbau als „Beschäftigte“ benannt.

Bestimmung der effektiven Dosis für NORM-Tätigkeiten

Die zu ermittelnde, effektive Dosis für NORM-Tätigkeiten ergibt sich als Summe aus:

mit
E             effektive Dosis
EA           Beitrag zur effektiven Dosis durch äußere Strahlenexposition (durch Gamma-Strahlung)
EInh,St      Beitrag zur effektiven Dosis durch Inhalation von Staub
EInh,Rn    Beitrag zur effektiven Dosis durch Inhalation von 222Rn und seinen kurzlebigen Zerfallsprodukten
EInh,Mat   Beitrag zur effektiven Dosis durch Direktingestion von Material
Bei Einhaltung der allgemeinen Regeln zum Arbeitsschutz kann bei den Prozessschritten der Expositionspfad EInh,Mat ausgeschlossen werden. Dieser Pfad wird im Weiteren für die Dosisabschätzung nicht berücksichtigt.
Die Inhalation von Radon/Radon-Folgeprodukten EInh,Rn ist nicht weiter relevant, da eine Radon-Freisetzung bei NORM-Tätigkeiten in den allermeisten Fällen als vernachlässigbar gering beurteilt werden kann.
Im Gegensatz zur Exposition der allgemeinen Bevölkerung wird bei der Dosisberechnung für Beschäftigte der natürliche Untergrund nicht abgezogen. Damit wird die tatsächliche Körperdosis am Arbeitsplatz bestimmt und bewertet und nicht die prozessbedingte Exposition. Diese Vorgehensweise führt zu konservativen Ergebnissen.
Der Beitrag zur effektiven Dosis durch Direktstrahlung errechnet sich nach:

mit
Ḣ*(10)s   Umgebungsäquivalentdosisleistung im Freien in 1 m Höhe am Expositionsort s [Sv/h]
fKon             Umrechnungsfaktor in effektive Dosis für die Referenzperson j [–]
tExp, j.s       
Jährliche Aufenthaltszeit der Person j am Expositionsort s [h]
Der Beitrag zur effektiven Dosis durch die Inhalation von radioaktiv belastetem Staub errechnet sich nach:

mit

           Atemrate [m³/h]; für Beschäftigte 1,2 m³/h
texp       Expositionszeit [h]
cLuft,i     
Aktivitätskonzentration des an Staub gebundenen Radionuklids i in der Atemluft des Beschäftigten [Bq/m³]
gInh,i      Inhalationsdosiskoeffizient für Staubinhalation des Radionuklids i [Sv/Bq]
Die Parameter für die Berechnung des Beitrags zur effektiven Dosis durch die Direktstrahlung können direkt bestimmt werden (*(10)s,tExp, j.s ) oder sind in den BglBb vorgegeben (fKon = 0,6 für Beschäftigte).

Für die Ermittlung des Beitrags zur effektiven Dosis durch die Inhalation von radioaktiv belastetem Staub können texp und cLuft,i  ebenfalls durch Messungen bestimmt werden.
Die Atemrate gibt die BglBb für Beschäftigte mit  = 1,2 m³/h vor.
Die BglBb beinhaltet auch radionuklidspezifische Inhalationsdosiskoeffizienten für die Staubinhalation gInh,i .
Diese Dosiskoeffizienten für Beschäftigte stammen nach den Ausführungen in den Erläuterungen zu den BglBb [1] der EURATOM- Richtlinie 96/26 [2], denen Veröffentlichungen der ICRP 68 [3] zugrunde liegen.
Die Dosiskoeffizienten gInh für die dosisrelevanten, langlebigen, natürlich vorkommenden Radionuklide nach den BglBb sind in der Tabelle 1 zusammengestellt. Sie beziehen sich auf Staub mit einem mittleren aerodynamischen Durchmesser (AMAD) von 5 μm.
Für die meisten Radionuklide werden die Werte der Lungenabsorptionsklasse M aus der ICRP 68 verwendet. Ausnahmen sind die Werte für Thorium-Nuklide, bei denen die Werte der Klasse S zugrunde gelegt werden, und für 227Ac (Werte der Klasse F).

Vierte Änderung der Strahlenschutzverordnung und neue Dosiskoeffizienten

Mit der vierten Verordnung zur Änderung der Strahlenschutzverordnung [4] sind nach den Vorgaben in der Anlage 18 „die für beruflich tätige Personen die Dosiskoeffizienten und Vorgaben aus den Zusammenstellungen im Bundesanzeiger Nummer 160 a und b vom 28. August 2001 Teil I und im Bundesanzeiger vom 10. Mai 2023 (Bekanntmachung des Bundesamtes für Strahlenschutz vom 17. April 2023, BAnz AT 10. Mai 2023 B7) heranzuziehen“.
Wenn weiterhin jeweils die Werte der Lungenklassen M bzw. bei den o.g. Ausnahmen der Klassen S oder F verwendet werden, sind die neuen Dosiskoeffizienten mit Ausnahme der Radionuklide 230Th und 232Th niedrigerals nach den BglBb (siehe Tabelle 1).

Tab. 1: Dosiskoeffizienten für die Inhalation langlebiger natürlich vorkommender Radionuklide für Beschäftigte, Daten nach BglBb [1] und nach Bundesanzeiger vom 10. Mai 2023 (BAnz AT 10. Mai 2023)

Radionuklid (Lungenabsorptions-klasse) BglBb [µSv/Bq] BAnz AT 10. Mai 2023 [µSv/Bq] Verhältnis Banz/BglBb
238U (M) 1,6 1,2 0,75
234U (M) 2,1 1,4 0,67
230Th (S) 7,2 15 2,08
226Ra (M) 2,2 1,4 0,64
210Pb (M) 1,1 0,62 0,56
210Po (M) 2,2 1,1 0,50
235U (M) 1,8 1,3 0,72
231Pa (M) 89 20 0,22
227Ac (F) 630 33 0,05
227Th (S) 7,6* 2,1 0,28
232Th (S) 12 55 4,58
228Ra (M) 1,7 1,2 0,71
228Th (S) 32 23 0,72
* Wert nicht in BglBb, aus ICRP60 entnommen

Die Abbildung 1 illustriert die Verhältnisse der alten und neuen Dosis­koeffizienten und zeigt, dass die Werte mit Ausnahme von 232Th und 230Th oberhalb der Winkelhalbierenden liegen.

Abb. 1: Gegenüberstellung der Dosiskoeffizienten aus dem Bundesanzeiger vom 10. Mai 2023 (BAnZ 10. Mai 2023) und den Berechnungsgrundlagen Bergbau [BglBb]

Auswirkungen auf Abschätzungen der Körperdosis bei Anwendung der neuen Dosiskoeffizienten

Für eine nach § 55 Abs. 1 StrlSchG auf den Arbeitsplatz bezogene Abschätzung der Körperdosis ergeben sich demzufolge Auswirkungen auf die berechneten Ergebnisse. Dazu werden abgeschätzte Körperdosen für die in der Tabelle 2 beispielhaft ausgewählten Tätigkeitsfelder nach Anlage 3 StrlSchG betrachtet.

Tab. 2: Beispielhaft betrachtete Tätigkeitsfelder nach Anlage 3 StrlSchG für die Abschätzung der Körperdosis nach § 55 Abs. 1 StrlSchG

Nr.* Tätigkeitsart
1 Schleifen thorierter Schweißelektroden
2 Handhabung und Lagerung thorierter Gasglühstrümpfe
3a Verwendung von Thorium in der natürlichen Isotopenzusammensetzung einschließlich der daraus jeweils hervorgehenden Tochternuklide, sofern vorhanden, zu chemisch-analytischen oder chemischpräparativen Zwecken
3b Verwendung von Uran in der natürlichen Isotopenzusammensetzung einschließlich der daraus jeweils hervorgehenden Tochternuklide, sofern vorhanden, zu chemisch-analytischen oder chemisch-präparativen Zwecken
9 Handhabung, insbesondere bei Wartungs- oder Reinigungstätigkeiten, von Schlämmen und Ablagerungen bei der Gewinnung, Verarbeitung und Aufbereitung von Erdöl und Erdgas sowie in der Tiefengeothermie
* Nummerierung nach Anlage 3 StrlSchG; Tätigkeitsfeld Nr. 3 ist hier unterteilt

Alle Ergebnisse der Dosisabschätzungen liegen unterhalb der Schwelle von 1 mSv im Kalenderjahr (1.000 µSv im Kalenderjahr) für die Einstufung als beruflich exponierte Personen nach § 5 Abs.7 StrlSchG.
Die berechnete Körperdosis mit den in den BglBb beinhalteten Dosiskoeffizienten ist stets größer als die mit den im Bundesanzeiger vom 10. Mai 2023 aufgeführten Koeffizienten. Selbst bei den Tätigkeitsfeldern wie dem Schleifen thorierter Schweißelektroden oder der Handhabung und Lagerung thorierter Gasglühstrümpfe, in denen in den Materialien die Thorium-Nuklide dominieren, werden die Werte der Körperdosis durch die Anwendung der neuen Dosiskoeffizienten reduziert. In Abbildung 2 sind die beiden Berechnungsergebnisse für die betrachteten Tätigkeitsfelder gegenübergestellt.

Abb. 2: Gegenüberstellung der berechneten Körperdosiswerte nach Abschätzungen auf der Grundlage der Dosiskoeffizienten aus den BglBb und aus dem BAnZ 10. Mai 2023

Fazit

Durch die Einführung der neuen Dosiskoeffizienten im Bundesanzeiger vom 23. Mai 2023 ergeben sich keine nennenswerten Auswirkungen, durch die sich strengere Anforderungen nach §§ 55 ff. StrlSchG für die Einstufung von Tätigkeitsfeldern und für den beruflichen Strahlenschutz ergeben. Dennoch müssen immer noch einige Unternehmen sensibilisiert werden, dass sie für ihre Arbeitsplätze mit Exposition durch natürlich vorkommende Radioaktivität unabhängig von der Geringfügigkeit der zu erwartenden Jahresdosis grundsätzlich die arbeitsplatzbezogene Körperdosis abschätzen müssen.
In diesem Beitrag werden Dosisabschätzungen im Zusammenhang mit der Entlassung von Rückständen aus der strahlenschutzrechtlichen Überwachung nach §§ 61 ff. StrlSchG nicht betrachtet. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass sich auch hier durch die Anwendung der neuen Dosiskoeffizienten keine negativen Auswirkungen ergeben. Vielmehr ergibt sich sehr wahrscheinlich bei der Nachweisführung zur Einhaltung des Richtwertes von 1 mSv im Kalenderjahr nach § 62 Abs. 2 StrlSchG ein „Sicherheitspuffer“, um die Entlassungsfähigkeit von Rückständen zu prüfen.

Quellen:

[1] Strahlenexposition infolge bergbaubedingter Umweltradioaktivität – Erläuterungen zur Berechnung mit den Berechnungsgrundlagen Bergbau. – BfS, Fachbereich Strahlenschutz und Umwelt (M. Kümmel); BfS-SW-12/12 (urn:nbn:de:0221-201204168021); Salzgitter, April 2012
[2] Richtlinie 96/29//Euratom des Rates vom 13. Mai 1996 zur Festlegung der grundlegenden Sicherheitsnormen für den Schutz der Gesundheit der Arbeitskräfte und der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlungen. – Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 159/1-114 vom 29. Juni 1996, S. 1.
[3] Dose coefficients for intakes of radionuclides by workers. – International Commission on Radiological Protection, Annals of the ICRP, Publication 68, Volume 24, No. 4; Pergamon (ISBN 0 08 042651 4); published July 1994.
[4] Vierte Verordnung zur Änderung der Strahlenschutzverordnung vom 10. Januar 2024. – Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 8 2024; ausgegeben zu Bonn am 15. Januar 2024.