Patientenschutzmittel in der Radiologie − ein Paradigmenwechsel!
Brücken bauen zwischen Fachwissen und Patientenerwartungen

Die Bedeutung guter Wissenschaftskommunikation und fundierter Strahlenschutzausbildung wird durch die richtungsweisenden Empfehlungen der Strahlenschutzkommission (SSK) vom 21. September 2022 vor neue Herausforderungen gestellt. Wenn Sie sich fragen, warum das so ist, ist dieser Artikel genau das Richtige für Sie.

Patientenschutz bei Röntgenaufnahmen

Adäquater Patientenschutz bei Röntgenaufnahmen bedeutet, die Strahlenexposition so gering wie möglich zu halten. Dafür werden Methoden wie fachgerechtes Einblenden, korrekte Lagerung und der Abstand des Strahlers zum Patienten eingesetzt. Bekannt ist vor allem die Verwendung von Bleischutzmitteln, die Patienten vor ionisierender Strahlung schützen sollen. In der Leitlinie der Bundesärztekammer (23.11.2007) wird die Anwendung von Bleischutzmitteln wie umschließenden Hodenkapseln bei bestimmten Röntgenuntersuchungen vorgeschrieben. Neuere Untersuchungen der SSK zeigen jedoch, dass diese Schutzmittel oft nicht effektiv und störungsfrei wirken.

Neue Erkenntnisse der SSK

In der 321. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 22./23.September 2022 wurde die Empfehlung „Verwendung von Patienten-Strahlenschutzmitteln in der Röntgendiagnostik bei der diagnostischen Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen“ verabschiedet.
Darin hat die SSK nach der Analyse zahlreicher Studien festgestellt, dass Bleischutzmittel oft negative Auswirkungen haben können.
Gründe dafür sind unter anderem (Entnommen aus der SSK-Empfehlung auf Seite 12):

  • Falsch angelegte Patienten-Strahlenschutzmittel können ihre Schutzwirkung verfehlen und/oder die darzustellenden Organregionen verdecken.
  • Aufgrund variierender anatomischer Gegebenheiten (z.B. Ovarien) kann die Abschirmung durch die Patienten-Strahlenschutzmittel unzureichend sein.
  • Interferenz des Materials der Patienten-Strahlenschutzmittel mit der automatischen Dosisregelung (Dosismodulation im CT oder Messkammern in Radiografie und Fluoroskopie) kann unerwünscht zu einer Erhöhung der Patientendosis führen.
  • Artefakte durch die verwendeten Patienten-Strahlenschutzmittel können die Bildqualität vermindern und eine Wiederholung der Aufnahme erforderlich machen.

Empfehlung der Strahlenschutzkommission

Die nachfolgende Tabelle 1 zeigt einen Auszug aus der betreffenden SSK-Empfehlung für den Bereich Projektionsradiografie.
Die Kategorisierung mit dem roten Kreuz bedeutet, dass hier der Einsatz von Patientenschutzmitteln nicht empfohlen wird.

Tab. 1: Auszug aus der SSK-Empfehlung „Verwendung von Patienten-Strahlenschutzmitteln …“ bei verschiedenen Untersuchungsarten und die erzielbare Reduktion von Organ-Äquivalentdosen.

Untersuchungsart Patienten- Strahlenschutzmittel Empfehlung Bemerkung Mögliche Dosisreduktion
(Organ-Äquivalentdosis)
Becken und Hüftgelenk Mann: Hodenschutz Bei Verwendung darf das Zielvolumen
nicht überlagert werden und es dürfen
keine Interferenzen mit einer
Belichtungsautomatik auftreten
Testes:
bis 0,8 mSv (im Direktstrahl,
sonst ca. 0,08 mSv)
Frau: Ovarialschutz Möglicher diagnostischer Informationsverlust und häufige fehlerhafte Positionierung des Ovarialschutzes Ovarien:
bis 0,150 mSv (Clancy et al. 2010,
Doolan et al. 2004,
Frantzen et al. 2012,
ICRP 2013, Liu et al. 2008)
Abdomen Mann: Hodenschutz Unter Abwägung aller Aspekte nicht sinnvoll Testes:
bis 0,08 mSv (Njeh et al. 1997,
Roth et al. 2001)
Frau: Ovarialschutz Positionierung des Ovarialschutzes sehr fehleranfällig
Extremitäten Kein Schutz notwendig Unter Abwägung aller Aspekte nicht sinnvoll
Thorax a. p./p. a. und seitlich Kein Schutz notwendig Unter Abwägung aller Aspekte nicht sinnvoll Gonadendosis: bis 0,000035 mSv (Samara et al. 2022)
Hinweis zur Handhabung der SSK-Empfehlung

Die Strahlenschutzkommission empfiehlt, Patienten-Strahlenschutzmittel gemäß dieser Tabelle anzuwenden und Abweichungen von den Empfehlungen zu dokumentieren.

Aktuelle Leitlinien und gesellschaftliche Herausforderungen

Die aktuelle Leitlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung in der Röntgendiagnostik in ihrer letzten Fassung vom 16. Februar 2023 orientiert sich stark an den Vorgaben der SSK-Empfehlung. Deutliche Forderungen, dass Bleischutzmittel am Patienten anzuwenden sind, gibt es nicht mehr. Jedoch wird in der Leitlinie argumentiert, dass „[a]uf den korrekten Einsatz von Strahlenschutzmitteln, insbesondere bei Kindern und Schwangeren, [zu achten ist.]“.
(Leitlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung in der Röntgendiagnostik in ihrer letzten Änderung vom 16.2.2023, S. 3).
Wenn die Einsatzpraxis von Patientenschutzmitteln laut SSK-Empfehlung unter anderem durch die Provokation von Wiederholungsaufnahmen als problematisch beschrieben wird, stellt sich die Frage, warum nun ausgerechnet bei Kindern und Jugendlichen die fragwürdigen Schutzmittel besonders Anwendung finden sollen. An dieser Stelle ist die Leitlinie leider nicht konsequent genug. Dies stellt eine Herausforderung dar, zumal medizinisches Personal und Patienten an den alten Standard gewöhnt sind und nun die neuen Erkenntnisse verstehen und akzeptieren müssen.

Kommunikation und Fortbildung

Es ist entscheidend, dass das medizinische Fachpersonal die neuen Entwicklungen versteht und den Patienten erklären kann, warum keine Bleischutzmittel mehr verwendet werden. Patienten könnten sich fragen, ob sie in der Vergangenheit falsch behandelt wurden und ob der Strahlenschutz ohne Schutzmittel noch gewährleistet ist. Unterschiedliche Ansichten und Ängste in der Gesellschaft müssen berücksichtigt werden, da manche Menschen das Strahlenrisiko als gering einschätzen, während andere jede denkbare Schutzmaßnahme verlangen.

Grenzen der Strahlenschutzmaßnahmen

In dieser Debatte rückt die SSK-Empfehlung einen besonderen Zusammenhang in den Fokus, nämlich dass viele Strahlenschutzmaßnahmen Grenzen besitzen. Und das nicht, weil ein simples Mehr nicht möglich wäre, sondern weil mehr nicht unbedingt besser bedeutet. Vielmehr gestaltet sich die gelebte Realität oftmals derart, dass eine situationsgerechte Abwägung durch geschultes Fachpersonal erfolgen muss. Hierzu gehört die Erkenntnis, dass der Einsatz von Bleischutz im Gegensatz zu anderen Maßnahmen und Möglichkeiten nur einen marginalen Einfluss auf die Dosisreduktion hat. Es tut aus rein psychologischen Effekten gut, wenn man etwas aufgelegt bekommt, ohne sich der Vor- und Nachteile von Strahlenschutzmaßnahmen bewusst zu sein. Andere, wesentlich wirkungsvollere Schutzmöglichkeiten, die nicht unmittelbar sicht- und spürbar sind, werden zumindest von den Patienten nicht wahrgenommen.

Abb. 1: Ein Mensch vor dem Röntgen damals und heute, visualisiert von atelier-x-ray.de

Effektiver Strahlenschutz

Ein optimaler Strahlenschutz erfordert die Hinwendung zu den wirkungsvolleren Maßnahmen, wie

  • qualifiziertes Personal,
  • die Auswahl optimaler Untersuchungsmethoden,
  • sorgfältige Vorbereitung und
  • korrekte Patientenlagerung.

Vor allen Dingen tragen die effektive Einblendung, ein ausreichend großer Abstand zwischen Strahlenquelle und Patient sowie dosissparende Geräteprotokolle bedeutend mehr zur Dosisreduktion bei.

Fazit

Die Bedeutung dieser Faktoren muss klarer kommuniziert und in der Praxis umgesetzt werden, um die Qualität in der Radiologie zu sichern.

Fortbildung und neue Materialien

Eine kontinuierliche Fortbildung des medizinischen Personals ist entscheidend, um aktuelle Entwicklungen und Best Practices im Strahlenschutz zu berücksichtigen. Insbesondere Fachkunde-Aktualisierungskurse sollten das Thema Patientenschutzmittel stärker in den Fokus rücken.
Der AKMed hat hierzu ein „StrahlenschutzKOMPAKT“ entwickelt. Außerdem wird eine Handreichung für Wartezimmer, Behandlungsraum und Kabine entwickelt, welche die Problematik kurz zusammen­fasst.