Gesellschaftliche Herausforderungen des Strahlenschutzes im Kontext der amtlichen Dosimetrie

Als wir, Jörg Walbersloh (Personendosismessstelle MPA Dortmund) und Frank Becker (Sekretär des AK Dosimetrie), uns im März 2024 erstmalig mit dem Thema „gesellschaftliche Herausforderungen des Strahlenschutzes im Kontext der amtlichen Dosimetrie“ auseinandersetzten, waren unsere ersten Gedanken dazu: Oh ja, ein breites Thema! Wo soll man da anfangen …?

Fragen aus der Arbeit einer Personendosismessstelle

Im Rahmen der täglichen Arbeit in der Messstelle tauchen häufig Fragestellungen auf, die sich in genau diesem Kontext diskutieren lassen. Das Spektrum dieser Fragestellungen ist dabei meist extrem breit, z.B. erzeugen

  • unterschiedliche Ausbildungsstände der überwachten (oder ansonsten beteiligten) Personen,
  • Strahlenphobien,
  • politisch nicht gewollte Dosisanzeigen usw.

hohen Aufklärungsbedarf und – manchmal – intensive Diskussionen.
Dazu kommen Themen wie

  • die Konservativität der Messgröße im Vergleich zur Schutzgröße,
  • statistische Ausreißer bei der Dosisermittlung und
  • damit verbunden die Frage: Wie „echt“ ist meine amtliche Dosis denn jetzt eigentlich, entspricht sie denn der erhaltenen Körperdosis wirklich?

Eine große Herausforderung liegt also in der Wahrnehmung der radiologischen Relevanz der Messergebnisse und dessen, was amtliche Dosimetrie eigentlich ist, wo ihre Grenzen sind und was sie bewirken soll.

Wie funktioniert eigentlich amtliche Personendosimetrie?

Der gesetzliche Rahmen

Zur besseren Einordnung dieser Aspekte muss die amtliche Dosimetrie daher zunächst in den gesetzlichen Rahmen des Arbeitsschutzes eingeordnet werden. Die amtliche Dosisüberwachung zum Schutz von beruflich strahlenexponiertem Personal ist durch den Gesetzgeber klar in den Paragrafen 64 und 65 der Strahlenschutzverordnung geregelt [1].
Dort heißt es – grob zusammengefasst –, dass in Überwachungs- und Kontrollbereichen die Körperdosis als Schutzgröße zu ermitteln ist, also die Organdosen und die effektive Dosis. Weiterhin heißt es dort, dass hierzu die Personendosis als Messgröße herangezogen wird – wodurch letztlich die (nicht messbaren) Schutzgrößen mit den gemessenen Daten der Personendosimetrie rechtlich in Verbindung gebracht werden.
Die im Rahmen der amtlichen Personendosimetrie ermittelten Messdaten werden zentral im Strahlenschutzregister (SSR) gesammelt und tragen dort zur Bewertung der Körperdosis (RiPhyKo Teil 2 [2]) bei und dienen somit der Feststellung möglicher Grenzwertüberschreitungen (§§ 77, 78 und 80 Strahlenschutzgesetz [3]).
So weit, so juristisch. Aber wie stellt sich dies im personendosimetrischen Alltag dar und – vor allem – welche Konsequenz ergibt sich daraus für die einzelne überwachte Person?

Die Dosisermittlung in der Praxis
Ein Betrieb mit beruflich strahlenexponierten Personen hat auf den eben beschriebenen Ablauf folgende Sicht:
Die Personendosismessstelle gibt Dosimeter an den Betrieb aus, welcher die Dosimeter den einzelnen Trägern zuordnet und sie an diese verteilt. Die überwachte Person trägt das Dosimeter für einen Zeitraum von typischerweise 1 Monat (in speziellen Fällen auch länger), tauscht es danach gegen ein „frisches“ aus und der Zyklus beginnt von vorne.
Der regelmäßige Austausch ist dabei notwendig, weil die aktuell in Deutschland eingesetzten amtlichen Dosimeter auf Basis passiver Messtechnik arbeiten, also über den gesamten Ausgabezeitraum durch Strahlung exponiert werden. Neben der beruflich bedingten Strahlung während der Arbeitszeit, auf welche Personendosimetrie ja abzielt, kommt da vor allem die natürliche Strahlung während des gesamten Ausgabezeitraumes hinzu.
Die effektive Dosis aufgrund natürlicher Strahlung beträgt in Deutschland im Mittel ca. 2,1 mSv, wovon etwa ein Drittel auf externe Strahlung zurückgeht, die auch von den Dosimetern registriert wird.
Externe natürliche Strahlung macht also 0,7 mSv im Jahr bzw. (bei monatlicher Überwachung) etwa 0,06 mSv Dosiseintrag auf einem Dosimeter aus – wohlgemerkt: im Mittel!
Um dies zu berücksichtigen, wird bei der Bestimmung der amtlichen Personendosis in Deutschland so verfahren, dass vom Rohmesswert der Dosisanzeige (welche aus genannten Gründen immer ein von null verschiedener Wert ist) der Anteil der natürlichen Strahlung abgezogen wird. Dies erfolgt entweder mittels eines pauschalen oder individuell für den Betrieb bestimmten Wertes für die natürliche Strahlendosis. Die Verfahren hierzu sind vielfältig und nicht bei jeder Messstelle identisch, haben aber eines gemeinsam:
Der verbleibende Anzeigewert des Dosimeters soll einen Rückschluss auf die reine berufliche Exposition zulassen – der natürliche Strahlenuntergrund ist nicht Teil der im Ergebnisbericht dargestellten Personendosis!

Zur Vollständigkeit sei noch erwähnt, dass der Dosiswert im Ergebnisbericht kaufmännisch gerundet ist, d.h., für die Ganzkörper-Personendosis finden sich Werte in Schritten von 0,1 mSv im Ergebnisbericht, wobei der Messwert zwischen 0,05 mSv und 0,15 mSv liegen kann. Diese gerundeten Ergebnisse werden auch an das SSR gemeldet.

Ein klares Verfahren – unterschiedliche Sonderfälle

Die hier beschriebene Verfahrensweise ist eine verfahrenstechnisch klare Anweisung zur Messung der Personendosis, der Ermittlung der Körperdosis und möglicher Grenzwertüberschreitungen.
Wo also liegt die gesellschaftliche Herausforderung?
Fangen wir mit den einfachen Beispielen an:
Was ist, wenn die auf dem Dosimeter angezeigte Dosis nachweisbar nicht echt ist?
Hierfür lassen sich 2 häufige Gründe als Beispiele schnell benennen.
  1. Nach der Nutzung wurde das Dosimeter am Arbeitskittel vergessen, welcher im darauffolgenden Urlaub die ganze Zeit im Bestrahlungsraum hing und dort immer wieder exponiert wurde.
  2. Ein auf Reisen mitgenommenes Dosimeter musste am Flughafen durch den Handgepäckscanner geschleust werden und wurde dort geröntgt. Beide Fälle lassen sich üblicherweise schnell nachvollziehen, sind aber mit entsprechender Recherchearbeit sowie Kosten für eine behördlich erstellte Ersatzdosis verbunden. Ärgerlich genug, aber immerhin aufklärbar!
Ein etwas schwieriger zu behandelndes Beispiel hingegen ist folgendes:

Ein Betrieb mit einer überschaubaren Anzahl an monatlichen Überwachungen, sagen wir zum Beispiel 10 Personen mit Ganzkörperdosimetern, erhält über die Jahre hinweg immer 0,0 mSv für alle Personen im Ergebnisbericht. Eines Tages findet sich dort nun für eine Person der Wert 0,1 mSv – einmalig, im Folgemonat nicht mehr und auch danach nie wieder! Dies ist gar nicht so unwahrscheinlich und kommt immer wieder mal vor. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber häufig nicht so leicht aufklärbar! Insbesondere könnte hierfür auch ganz einfach der Anteil der natürlichen Strahlung verantwortlich sein: ein kleines bisschen „zu viel davon“, und die Rundungsregel (s. oben) sorgt für einen von null verschiedenen Wert der amtlichen Dosis.

Auf den Umgang mit dem Ergebnis kommt es an

Natürlich lässt sich beim letzten Beispiel im Nachhinein nur vermuten, was wirklich die Ursache für eine solche Anzeige war. Allerdings ist diese auch gar nicht so entscheidend.
Entscheidender in diesem Kontext ist die Fragestellung: Was lerne ich aus meiner Dosisanzeige für meinen Strahlen- und letztendlich Arbeitsschutz?
Die Grundsätze und Verfahren der amtlichen Personendosismessung dienen der Kontrolle der beruflichen Strahlenexposition, insbesondere der Ermittlung der Körperdosis und dem Nachweis, dass die Körperdosisgrenzwerte nicht überschritten werden.
Die Überwachung soll also keine Präzisionsmessung der Dosis darstellen, sondern im Hinblick auf die Grenzwerte und das ALARA-Prinzip dazu dienen, ein Indikator für guten (oder möglicherweise schlechten) praktischen Strahlenschutz zu sein.

Die Relevanz eines grundlegenden Verständnisses der Ergebnisse der amtlichen Personendosismessung ist an den stetig steigenden Anfragen an das SSR erkennbar. Abbildung 1 zeigt dies deutlich, denn die Anfragen haben sich von 2014 bis 2023 fast versechsfacht!

Abb. 1: Anzahl der SSR-Anfragen von 2014 bis 2023 (Daten mit freundlicher ­Genehmigung des SSR, Uwe Öh und Martin Dommert, Grafik erstellt von Jörg Walbersloh, MPA Dortmund).

Aktuelle Messgrößen und ICRU/ICRP-Neudefinition

Die aktuellen phantombezogenen Messgrößen wurden mit der Revision der Strahlenschutzgesetzgebung 2001 in Deutschland eingeführt [4]. Die amtlichen Messstellen haben ihre Systeme danach auf die Anforderungen für diese Messgrößen umgestellt und diese im Laufe der Zeit sogar vollständig modernisiert bzw. neu entwickelt und professionalisiert.
Nun steht seit 2016 die von der ICRU/ICRP vorgeschlagene Neudefinition der Messgrößen für externe Bestrahlung [5,6] in kontroverser Diskussion.
Eine mögliche Konsequenz der vorgeschlagenen Neudefinition ist in Abbildung 2 am Beispiel des Dünnschicht-TL-Personendosimeters „MPA TL-DOS GD 01“ dargestellt. Die energieabhängige Darstellung des Ansprechvermögens zeigt bei der Anwendung der vorgeschlagenen Neudefinition Hp ein im Vergleich zum aktuellen Wert Hp(10) erhöhtes Überansprechvermögen des Dosimeters im niederenergetischen Bereich zwischen 20 und 50 keV, welches außerhalb der zulässigen Toleranz liegt.


Abb. 2: Ansprechvermögen des Dünnschicht-TL-Personendosimeters „MPA TL-DOS GD 01“: Die gelben Punkte entsprechen der Neudefinition Hp, die blauen Punkte dem aktuellen Wert Hp(10). (Grafik erstellt von Jörg Walbersloh, MPA Dortmund).

Kritische Diskussionspunkte zum neuen ICRU/ICRP-Konzept der Messgrößen

Obwohl das neue ICRU/ICRP-Konzept der Messgrößen für die externe Bestrahlung aus wissenschaftlicher Sicht offensichtlich eine Verbesserung darstellt, führen einige wichtige praktische Aspekte jedoch zu den folgenden kritischen Diskussionspunkten, die gegen eine Einführung sprechen:
  • Schon wieder eine neue Messgröße, nachdem alle Systeme mit viel Aufwand auf den alten „neuen Standard“ von 2001 umgestellt wurden.
  • Die Entwicklung neuer Dosimeter wäre notwendig, obwohl die derzeitige Praxis der Strahlenschutzmessungen in praktisch allen Anwendungsbereichen zufriedenstellend ist.
  • Es würden sich hohe Entwicklungs- und Zulassungskosten ergeben, die letztendlich auf die überwachten Betriebe umgelegt werden müssten.
  • Die Sinnhaftigkeit der neuen Messgröße, insbesondere im Bereich der niedrigen Energien (siehe auch Abbildung 2), ist zweifelhaft:
    – Wenn „Millisievert = Millisievert“ bleibt, sind die Zahlenwerte vorher, Hp(10), und nachher, Hp, nicht mehr vergleichbar, was zu Akzeptanzproblemen in der Personendosimetrie führen wird.
  • Ein Ganzkörper-Dosimeter, wie das „MPA TL-DOS GD 01“, müsste das Ansprechvermögen im niederenergetischen Röntgenanteil durch mehr Filterung (d.h. Absorber!) stark reduzieren, um wieder in einen sinnvollen Anzeigebereich zu kommen. Infolgedessen könnte eine untere Grenze zur Dosisregistrierung, die aktuell in der Größenordnung von 0,1 mSv liegt, bei der Umsetzung der neuen Messgröße eventuell gar nicht mehr erreichbar sein. Ein notwendig neues Dosimetersystem mit erhöhtem Absorberanteil wäre eventuell gar nicht mehr in der Lage, diese Größenordnung zu erreichen. Die Folge wäre eine signifikant schlechtere Strahlenschutzüberwachung!

Fazit

Aus der Sicht der amtlichen Dosimetrie sind keine praktischen Verbesserungen im Strahlenschutz zu erkennen, die die Kosten der Implementierung von neuen Dosimetersystemen für die von der ICRU/ICRP vorgeschlagenen neuen Messgrößen aufwiegen könnten. Aktuell sind wir der Meinung, dass dieser Ansatz nicht zu einem signifikant höheren gesellschaftlichen Nutzen führt.

Quellen

[1] Strahlenschutzverordnung vom 29. November 2018 (BGBl. I S. 2034, 2036; 2021 I S. 5261), die zuletzt durch Artikel 2 der Verordnung vom 17. April 2024 (BGBl. 2024 I Nr. 132) geändert worden ist.
[2] RiPhyKo – Richtlinie für die physikalische Strahlenschutzkontrolle zur Ermittlung der Körperdosen, Teil 2: Ermittlung der Körperdosis bei innerer Strahlenexposition (Inkorporationsüberwachung) (§§40, 41 und 42 StrlSchV); Anlage zum RdSchr. vom 12.1.2007 – RS II 3 – 15530/1 (GMBl. 2007, Nr. 31/32, S. 623).
[3] Strahlenschutzgesetz vom 27. Juni 2017 (BGBl. I S. 1966), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Mai 2021 (BGBl. I S. 1194; 2022 I 15) geändert worden ist.
[4] Ambrosi, P.; Ankerhold, U.; Behrens, R.; Böhm, J.; Helmstädter, K.; Schuhmacher, H.; Wissmann, F.; Zimbal, A.: Einheitliche Dosis-Messgrößen durch die Umsetzung der Richtlinie 96/29/EURATOM, Auswirkungen auf die Darstellung und die Weitergabe der Einheit Sievert für die Messgrößen, auf die Messtechnik und auf Bauartprüfungen, PTB-Dos-45 (2003), ISBN: 3-86509-085-0.
[5] Operational quantities and new approach by ICRU. Annals of the ICRP. 2016; 45(1_suppl):178-187, doi: 10.1177/0146645315624341.
[6] ICRU Report 95: Operational quantities for external radiation exposure. Journal of the ICRU, Volume 20, Issue 1, https://doi.org/10.1177/1473669120966213.