Die gesellschaftlichen Herausforderungen für den Notfallschutz
Nutzung der Kernenergie international
Die Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke und der langfristige Atomausstieg in der Schweiz gehören zu diesen veränderten Rahmenbedingungen. Das Szenario „Kernkraftwerksunfall“ bleibt allerdings trotzdem aktuell – nicht nur in der Schweiz, wo bei angenommener Laufzeit von 50 Jahren die letzte Abschaltung im Jahr 2034 erfolgen würde. Der Blick in das offiziell „atomfreie“ Nachbarland Österreich zeigt, dass auch grenznahe Anlagen im Ausland entsprechende Vorbereitungen erfordern. In mehreren Nachbarländern Deutschlands (Frankreich, Schweiz – mit Ablaufdatum, Belgien und Tschechien) sind Anlagen in Betrieb. Es wird eine wichtige Aufgabe des Notfallschutzes darstellen, die nötigen Vorbereitungen für den Schutz vor grenzüberschreitenden Auswirkungen schwerer Unfälle in diesen Anlagen zu treffen. Ebenso gilt es, ausreichend auf Ereignisse vorbereitet zu sein, die in den Brennelemente-Lagerbecken auftreten können.
Neue Zuständigkeiten für den Notfallschutz in Deutschland
Hinzu kommt zu alledem, dass sich Zuständigkeiten verlagern. In Deutschland übernimmt der Bund nun Dinge, die früher von den Betreiberländern abgedeckt waren, frühere Anlagenbetreiber ziehen sich mit Rückbaufortschritt aus dem Notfallschutz zurück und neue große Gesellschaften aus dem Zwischen- und Endlagerbereich entdecken das Thema.
Aber der Notfallschutz besteht nicht nur aus Ereignissen, die von Anlagen im jeweiligen Inland ausgehen.
Demografie
Kompetenzerhalt
Die aktuellen demografischen Veränderungen stellen für die gesamte Gesellschaft eine große Herausforderung dar und der Notfallschutz ist dabei keine Ausnahme.
Die Verfügbarkeit von „Strahlenschützerinnen und Strahlenschützern“, die hauptberuflich mit dem Thema Notfallschutz umgehen, wird sich in Deutschland mit dem Abschied der Kraftwerke aus diesem Themenbereich sicher verändern. Die Zahl derjenigen, die in ihrem täglichen Arbeitsumfeld mit relevanten Dosisleistungen und Kontaminationen umgehen und somit rasch Einschätzungen einer Gefahrenlage geben können, nimmt dadurch ab.
Derzeit ist das fachspezifische Wissen noch in großem Umfang vorhanden – allerdings zu einem erheblichen Anteil bei Personen, deren Berufstätigkeit sich in den nächsten Jahren einem Ende nähert.
Wird es gelingen, das Fachwissen rechtzeitig weiterzugeben, und wird eine ausreichende Zahl von Nachwuchskräften da sein, um dieses Wissen aufzunehmen, bevor „die Alten“ in den Ruhestand überwechseln?
Wer wird bereit sein, über den Antritt des Ruhestandes hinaus beratend tätig zu sein, um den Wissenstransfer zu gewährleisten?
Fazit
In diesem Zusammenhang ist besonderes Augenmerk auf die Themen Ausbildung und Übungen zu legen. Dabei können neue Wege beschritten werden, die von der Nutzung von E-Learnings und Webinaren über Ausbreitungssimulationen bis hin zu Social-Media-Generatoren zur Simulation der Kommunikation mit der Öffentlichkeit reichen.
Technische Entwicklungen im Bereich Notfallschutz
Drohnen
Auf der technischen Seite gewinnen Einsatzmittel an Bedeutung, deren Verfügbarkeit vor einigen Jahren recht unrealistisch schien. Ein Beispiel dafür sind Drohnen, korrekt UAVs (unmanned aerial vehicles). Sie faszinieren die Menschen schon lange, sind aber erst seit Kurzem aufgrund erhöhter Nutzlasten und Einsatzzeiten in der Lage, anspruchsvolle Messsysteme zu tragen. Dies ist die Voraussetzung, sinnvoll nach Strahlenquellen suchen oder größere Bereiche ausmessen zu können.
Abb. 1: Fernbedienung für den Notfall: Drohnen- und Roboter-Auswahl
Elektronische Lagedarstellungen
Aus dem Bereich der Einsatzleitung sind elektronische Lagedarstellungen und Prognose- und Entscheidungshilfesysteme seit Langem nicht mehr wegzudenken. Sie werden im Übungsbetrieb erfolgreich eingesetzt.
Die Herausforderung ist, diese Darstellungssysteme, aber auch die Kommunikationsmittel so zu gestalten, dass sie unter Katastrophenbedingungen, Stromausfall oder bei Zerstörung von Infrastruktur weiterhin funktionieren und zur Verfügung stehen.
Nutzung Künstlicher Intelligenz
Eine weitere Herausforderung im Bereich technischer Entwicklungen stellt die Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) dar. Der Einsatz von KI wird massive personelle Erleichterungen beispielsweise beim Führen eines Einsatztagebuchs bringen.
Fazit
Bevor KI aber zur Entscheidungsfindung im Notfallschutz eingesetzt werden kann, sind noch zahlreiche Rahmenbedingungen zu klären. Hier unterscheidet sich der Notfallschutz nicht wesentlich von anderen Lebensbereichen, in denen sich ähnliche Fragen stellen.
Krieg und Terror
Neue Herausforderungen
Eine gewaltige gesellschaftliche Herausforderung ist die Rückkehr kriegerischer Ereignisse nach Europa mit einer derzeit unklaren weiteren Entwicklung. Aus Sicht des Notfallschutzes ergeben sich dadurch zahlreiche Änderungen. So müssen bei kerntechnischen Anlagen nicht mehr nur technische Defekte und menschliches Versagen als mögliche Auslöser eines radiologischen Ereignisses betrachtet werden.
Hinzu kommen nun die möglichen Auswirkungen des beabsichtigten oder unbeabsichtigten Beschusses solcher Anlagen sowie das Szenario der bewussten Zerstörung von Anlagen oder Anlagenteilen durch Sprengungen.
Das Szenario „Kernwaffendetonation“ ist ebenfalls wieder ins Bewusstsein gerückt, insbesondere mit Überlegungen zu den Auswirkungen eines begrenzten Einsatzes taktischer Kernwaffen im Konfliktgebiet.
Neben den Kernanlagen und Kernwaffen erscheint es aber auch denkbar, dass für hoch radioaktive Strahlenquellen im Konfliktgebiet keine wirkungsvolle regulatorische Kontrolle mehr möglich ist.
Kommen Menschen unbewusst mit diesen Strahlenquellen in Kontakt, wären deterministische Strahlenschäden bis hin zum Tod mehrerer Personen denkbar. Ebenso könnten Strahlenquellen außerhalb der regulatorischen Kontrolle entwendet, verkauft und für kriminelle oder terroristische Zwecke verwendet werden – möglicherweise auch in anderen Ländern.
Fazit
Die Herausforderungen für den Notfallschutz bestehen daher darin, auf neue (und alte) Szenarien ausreichend vorbereitet zu sein, und das möglichst in jeder Phase des Katastrophenmanagements – Vermeidung, Vorsorge, Bewältigung und Wiederherstellung.
Klimakatastrophe
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels hatte unser Planet gerade 11 außergewöhnlich heiße Monate hinter sich. Der Klimawandel wird zusehends zur Klimakatastrophe, die sich weltweit auswirkt.
Gibt es hier einen Zusammenhang mit dem radiologischen Notfallschutz?
Die letzten Jahre haben bereits gezeigt, dass sich aufgeheiztes oder fehlendes Flusswasser auf den Betrieb von kerntechnischen Anlagen auswirken kann. Strahlenquellen können von ausufernden Waldbränden ebenso betroffen sein wie von Überschwemmungen. Und nicht zuletzt wird es bei zunehmender Temperatur zu einer immer größeren Herausforderung, über längere Zeit die nötige Persönliche Schutzausrüstung (PSA) zu tragen.
All diesen Herausforderungen wird man begegnen müssen.
Wissenschaftsferne
Eine abstrakte, aber dennoch gewaltige Herausforderung besteht für den Notfallschutz in der Wissenschaftsferne der Bevölkerung. Mathematik und Naturwissenschaften wurden über viele Jahre in der schulischen Ausbildung vernachlässigt und davon nichts zu verstehen, war und ist teilweise sogar „hip“.
In den letzten Jahren sind unstrittige wissenschaftliche Fakten oft als Meinung missverstanden worden, der man eine alternative Meinung, also alternative „Fakten“, entgegnen kann.
Kommunikation mit der Bevölkerung
Die Herausforderung, wissenschaftliche Fakten so zu erklären, dass sie von der breiten Bevölkerung verstanden und angenommen werden, ist groß und es darf angenommen werden, dass sie in den nächsten Jahren noch größer wird.
Wie kann man vermitteln, dass der Schutz von Menschen auch darin bestehen kann, keine Evakuierung durchzuführen?
Welche einfachen und dennoch richtigen Antworten haben wir auf Fragen wie: „Ab wann wird es denn gefährlich?“ –
Hier gibt es ein Handlungsfeld, in dem nicht nur der Notfallschutz gefragt ist.
Arbeitskreis Notfallschutz
Im Fachverband für Strahlenschutz besteht für all diese Themen der Arbeitskreis „Notfallschutz“ (AKN). Dieser hat sich im Jahr 2024 zum 57. Mal getroffen – bei 2 Treffen im Jahr bedeutet es, der AKN besteht erfolgreich über 25 Jahre. Bei der Gründung wurden als Ziele des Arbeitskreises „Notfallschutz“ beschlossen:
- Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf dem Gebiet des nuklearen Notfallschutzes mit Priorität für kerntechnische Anlagen (on-site und off-site)
- Durchsicht von Empfehlungen, Richtlinien und Verordnungen auf internationaler Ebene (IAEO, OECD/NEA, EU) und Beurteilung ihres möglichen Einflusses auf die nationale Notfallschutzplanung
- Ausarbeitung von Empfehlungen zur Aus- und Weiterbildung der im Notfallschutz eingebundenen Stellen (Behörden, Facharbeiter, Einsatzorgane)
Ausgehend von diesen Zielen wurde das Aufgabengebiet des AKN umrissen. Es umfasst ein breites Spektrum. So sollen neben Unfällen in kerntechnischen Anlagen auch Transportunfälle mit radioaktiven Stoffen, Satellitenabstürze und Unfälle mit Kernwaffen diskutiert werden.
Im Arbeitskreis treffen sich Vertreterinnen und Vertreter von Anlagenbetreibern, Behörden, Gutachterorganisationen und Betreibern von Notfallschutzeinrichtungen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich – und trotz oder wegen dieser Diversität des Teilnehmerkreises sind die Treffen von sehr offenen und wertschätzenden Diskussionen und Erfahrungsaustausch geprägt.
Fazit
Vor dem Hintergrund der geschilderten gesellschaftlichen Herausforderungen bleibt die Tätigkeit des Arbeitskreises jedenfalls herausfordernd, interessant und spannend.