Charakteristische Grenzen für den praktischen Strahlenschutz Strahlung betrifft jeden.

Der Strahlenschutz ist ein Thema, das nicht nur die Experten dieses Fachgebietes betrifft, sondern die gesamte Gesellschaft. Strahlenquellen oder Strahlungsfelder sind in den verschiedensten Bereichen des menschlichen Lebens präsent.
Um die beruflich exponierten Personen und die Personen der Bevölkerung vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung zu schützen, hat der deutsche Gesetzgeber mit dem Strahlenschutzgesetz und der Strahlenschutzverordnung [1,2] entsprechende Regelwerke geschaffen. Zu dem Schutzkonzept dieses Regelwerks gehört auch die Festlegung von Grenz- und Referenzwerten für verschiedene Größen, insbesondere radiologische Größen.

Strahlung messbar machen, bedeutet interdisziplinäre Zusammenarbeit auf höchstem Niveau.

Zentrale Fragestellungen bei der Messung solcher Größen sind:

  • Wann eignen sich Messgerät und Messverfahren, um Werte für eine bestimmte Größe zu messen?
  • Wie kann auf der Basis von Messwerten entschieden werden, dass eine untersuchte Probe als radioaktiv angesehen werden sollte?
  • Wann kann geschlussfolgert werden, dass ein Messwert einen entsprechenden Grenzwert sicher unterschreitet?

Diese Fragestellungen eröffnen ein großes Arbeitsgebiet nicht nur für Messgerätehersteller und wissenschaftliche Institutionen, sondern auch für den Gesetzgeber sowie für (Bundes-)Ämter und Behörden. Denn erst wenn die Messgrößen im Strahlenschutz definiert und verbindlich festgelegt sind, hat es Sinn, Geräte für die Messung dieser Größen zu bauen und Messverfahren zu entwickeln. Dazu bedarf es aber auch der Standardisierung von Auswerteverfahren für die Daten, die mit diesen Geräten gemessen werden. Auf der Basis von Messergebnissen, die aus solchen Auswerteverfahren hervorgegangen sind, können anschließend Entscheidungen für Maßnahmen zum Schutz vor ionisierender Strahlung getroffen werden.

Die Standardisierung der Auswertemethoden ist fundamental für Entscheidungsfindungen

Mit der Standardisierung von Auswerteverfahren für Messungen mit Aktivitätsmessgeräten beschäftigt sich der Gemeinschaftsarbeitskreis der „Deutschen Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik“ DKE/GAK 851.0.1 „Nachweis- und Erkennungsgrenzen bei Kernstrahlungsmessungen“, der zugleich der Arbeitskreis AK SIGMA des Fachverbandes für Strahlenschutz e.V. ist.
Das Kernstück des Arbeitskreises bildet der aktuell vierteilige internationale Standard ISO 11929 [3]. Dessen Entstehung ist unmittelbar auch mit dem Arbeitskreis WG 17 des Komitees ISO/TC 85/SC 2 der Internationalen Organisation für Standardisierung (International Organization for Standardization ISO) verknüpft.

Charakteristische Grenzen sind Entscheidungshilfen

Die ISO 11929 beschreibt die Auswerteverfahren für die charakteristischen Grenzen – das sind die Erkennungs- und Nachweisgrenze sowie das Überdeckungsintervall.
Folgende Fragen sind mit ihnen verbunden [4]:

  1. Erkennungsgrenze: Ab welchem Messwert einer Größe kann im Rahmen der Messunsicherheit entschieden werden, dass von einem wahren Wert größer null ausgegangen werden kann?
  2. Nachweisgrenze: Wie groß ist der kleinste wahre Wert der Messgröße, der mit dem gegebenen Messverfahren zuverlässig ermittelt werden kann?
  3. Überdeckungsintervall: Was ist der Bereich von Werten, der den wahren Wert mit hoher Wahrscheinlichkeit enthält?
    Oder synonym: Was ist der Bereich von potenziellen wahren Werten, der durch eine hohe Wahrscheinlichkeit ausgezeichnet ist?

Wozu dienen charakteristische Grenzen?
Die Erkennungsgrenze kann als eine Entscheidungsregel für oder gegen einen Probenbeitrag betrachtet werden, wobei die Probenmessung in Anwesenheit eines Strahlungshintergrunds erfolgt.
Die Nachweisgrenze ist dagegen eine Art Sensitivitätskriterium für das Messverfahren im Hinblick auf die Einhaltung eines Grenz- oder Referenzwertes.
Das Überdeckungsintervall ist wichtig bei Konformitätsbetrachtungen, die z. B. das Ziel verfolgen, eine belastbare Aussage darüber zu machen, ob das Messergebnis den geforderten Grenzwert unterschreitet.

Die Weiterentwicklung der ISO 11929 ist ein spannendes und herausforderndes Tätigkeitsfeld

Im Arbeitskreis AK SIGMA kommen Vertreterinnen und Vertreter aus den verschiedensten Einrichtungen zusammen, darunter Messgerätehersteller, Sachverständige, wissenschaftliche Institutionen, Behörden und Ämter, um ihre Erfahrungen in der Anwendung der bestehenden ISO 11929 einzubringen. Sie sorgen so für die stete Weiterentwicklung des Standards. Insbesondere sind es die Grenzfälle der Anwendbarkeit des Standards, die Anlass geben, Weiterentwicklungen voranzutreiben.
Dies ist nicht nur eine wichtige, sondern auch eine spannende Arbeit mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch, der durchaus eine Herausforderung darstellt.

Die metrologischen Aspekte von Strahlenschutzmessungen können eine Herausforderung für die Gesellschaft als Ganzes sein

Das Konzept der Messunsicherheit [5], das die Basis für die ISO 11929 darstellt, geht auf die Ideen von Thomas Bayes (*1702, †1761) zurück. Im Laufe der Jahrhunderte wurden sie jedoch verdrängt, um in den letzten Jahrzehnten gerade in den Wissenschaften eine Renaissance zu erleben. Dennoch finden diese Ideen nur zögerlich Eingang in den Schulunterricht und die Ausbildung von jungen Menschen. Den Ideen noch stärkeren Vorschub auch in diese Bereiche zu geben, bedeutet, mögliche Vorbehalte gegen statistische Themen fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass ein erstes Gewöhnen an diese Ideen das spätere Verstehen ermöglicht. Dies könnte die Herausforderung an jeden sein, der mit einem Strahlenschutzmessgerät messen möchte.
In diesem Sinn sei zu dem folgenden Exkurs eingeladen.

Die ISO 11929 fußt auf dem Konzept der Messunsicherheit

Die Grundideen der ISO 11929 basieren auf dem Konzept der Messunsicherheit. Ein erweiterter Wahrscheinlichkeitsbegriff und das Bayes’sche Theorem sind darin tragende Säulen.
Wird die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Ereignisses festgelegt, ist dabei stets sämtliches Vorwissen I zu berücksichtigen. Daher sind bedingte Wahrscheinlichkeiten ein wichtiger Aspekt in diesem Konzept.
Jeder Messgröße Y wird eine Wahrscheinlichkeitsdichte ƒy zugeordnet. Das Vorwissen über die möglichen wahren Werte ỹ wird im Prior ƒy(ỹ Ι I) zusammengefasst. Aus der anschließenden Messung ergibt sich die Dichte der Messwerte γ, die Likelihood ƒy(y Ι ỹ, I). Das Bayes’sche Theorem erlaubt es dann, das Vorwissen mit dem Wissen aus der Messung zum Posterior ƒy( Ι y,I) zu kombinieren, was ein Aktualisieren des Vorwissens bedeutet, siehe Abbildung 1.

Abb. 1: Der Posterior ergibt sich aus dem Bayes’schen Theorem als das renormierte Produkt aus Likelihood und Prior. Zur besseren Verdeutlichung des Zusammenhangs ist hier ein Extrembeispiel gezeigt.

Die Erkennungsgrenze y* wird anhand der Likelihood ƒy(y Ι ỹ, I) unter der Annahme eines wahren Wertes ỹ = 0 bestimmt, siehe Abbildung 2 links. Sie ist das (1 – α)-Quantil dieser Likelihood.
Wird die Erkennungsgrenze vom primären Messwert überschritten, y > y*, so darf entschieden werden, von einem wahren Wert größer null auszugehen,  > 0.
Diese Entscheidung kann mit der vorgewählten Wahrscheinlichkeit α falsch sein.
Die Nachweisgrenze y# ergibt sich als Erwartungswert aus der Likelihood ƒy(y Ι ỹ, I) unter der Annahme eines wahren Wertes  = y#, wobei die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Messwerten kleiner als die Erkennungsgrenze mit β angesetzt und vorher festgelegt wird, siehe Abbildung 2.

Abb. 2: Die Erkennungsgrenze y* und Nachweisgrenze y# werden an der Likelihood jeweils für einen bestimmten wahren Wert festgemacht.

Die Wahrscheinlichkeit für eine falsche Entscheidung beträgt dann β.
Damit ein Messverfahren geeignet ist, um wahre Werte auch unterhalb eines Grenzwertes nachzuweisen, muss die Nachweisgrenze entsprechend kleiner sein als der Grenzwert, y# < yGrenz.
Das Überdeckungsintervall wird am Posterior ƒy( Ι y, I) festgemacht. Dieses ist jedoch nicht eindeutig.
Für Konformitätsbetrachtungen wird das probabilistisch symmetrische Überdeckungsintervall in den Grenzen yund y mit einer Überdeckungswahrscheinlichkeit (1 – γ) empfohlen [4], siehe Abbildung 3.

Abb. 3: Als Überdeckungsintervall ist hier das probabilistisch symmetrische Intervall in den Grenzen y und ymit der Überdeckungswahrscheinlichkeit 1 – γ gezeigt. Der beste Schätzwert ŷ entspricht dem Erwartungswert des Posteriors.

Quellen

[1] Strahlenschutzgesetz vom 27. Juni 2017 (BGBl. I S. 1966)
[2] Strahlenschutzverordnung vom 29. November 2018 (BGBl. I S. 2034, 2036; 2021 I S. 5261)
[3] Weblinks zur ISO 11929 1–4: www.iso.org/standard/69579.html, www.iso.org/standard/69580.html, www.iso.org/standard/69581.html, www.iso.org/standard/84497.html, Abfrage 8.5.2024
[4] Michel R., Birkhan J., (2022) A Primer in Metrology and Statistics, www.fs-ev.org/fileadmin/user_upload/04_Arbeitsgruppen/06_Nachweisgrenzen/02_Dokumente/Arbeitsmaterialien/Michel_Birkhan_A_ primer_in_metrology_and_ statistics_220909.pdf
[5] Weise K., Wöger W., (1992) Eine Bayes’sche Theorie der Messunsicherheit, PTB-Bericht N-11